Der Arzt als Mensch
- Die Annahme, dass bei Ärzt/en/innen im Vergleich zu anderen Berufsgruppen
ein erhöhtes Suizidrisiko besteht, ist durch entsprechende empirische
Studien zur Suizidalität von Ärzt/en/innen international bestätigt worden.
Erhöhte Suizidraten können auch für die deutsche Ärzteschaft als gesichert
angenommen werden. Natürlich stellt sich die Frage, warum ausgerechnet
Menschen, denen die Gesundheit und das Leben anderer am Herzen liegen,
ihr eigenes Leben frühzeitig beenden.
- Welche im Zusammenhang mit der ärztlichen Berufsausübung stehenden
gravierenden Einflüsse können für den Betroffenen zum Anlass von tiefer
Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung werden, aus der er schließlich als
einzigen Ausweg die Selbsttötung sieht. Ursächlich werden Veranlagungen
und Dispositionen vermutet, die der künftige Arzt / die künftige Ärztin
bereits ins Studium mitbringen, bzw. die bereits ungesunde Motive für
die Berufswahl selbst darstellen. Zusätzlich werden unterschiedliche
Einflussfaktoren diskutiert, die verstärkend auf die ‚mitgebrachten'
Veranlagungen einwirken, und / oder während des Medizinstudiums und
der ärztlichen Berufsausübung neu hinzukommen. Neben Depression und
Substanzabhängigkeit werden Stress und Burn-out Syndrom als Hauptrisikofaktoren
ärztlicher Suizidalität angesehen. Es scheint so, dass der medizinische
Werdegang gemeinsam mit den hohen Erwartungen, die sich aus dem soziokulturellen
Berufsbild ergeben, bei entsprechend disponierten Menschen Depressivität
verstärken und ein ohnehin labiles narzisstisches System destabilisieren
kann.
- Da eigene Not und Hilfsbedürftigkeit nicht dem Bild des leistungsstarken,
unverwundbaren und übermächtigen Arztes entsprechen, kann der oftmals
über viele Jahre hinweg andauernde menschliche Leidensweg in einem krassen
Gegensatz zu der gleichzeitig gelebten ärztlichen Selbstdarstellung
stehen. Oftmals wird die Sackgasse der selbst geschaffenen ärztlichen
Identität erst durch den Suizid überhaupt erkennbar.
- Aus diesem Grund sind im angloamerikanischen Sprachraum die ärztlichen
Standesvertretungen seit längerem bemüht, symptomatischen Kolleg/en/innen
als 'Impaired Physicians' möglichst frühzeitig Hilfe anzubieten. Durch
speziell auf erkrankte Kolleg/en/innen zugeschnittene Behandlungsprogramme
(IPP-Impaired Physician Programs) soll Chronifizierung vermieden werden,
die Berufsfähigkeit erhalten bzw. wiederhergestellt werden und dadurch
auch ein Beitrag zur Suizidprävention geleistet werden.
- In Deutschland sind wir aus verschiedenen Gründen noch längst nicht
so weit. Obwohl erste Schritte in diese Richtung gegangen werden, tut
sich das deutsche Gesundheitssystem mit seinen recht starren Strukturen
und den konservativen Standesvertretungen noch schwer damit, den 'Erkrankten
Arzt' als selbstverständlich anzuerkennen und ihm bevorzugt Unterstützung
und Hilfe anzubieten.
- Umso wichtiger ist es für Sie als Betroffene(r), nicht länger auf
Hilfe von außen zu warten bzw. so lange abzuwarten, bis Sie durch eine
wie auch immer geartete Katastrophe in Ihrer Krankheit und Hilfebedürftigkeit
entlarvt werden, sondern selbst aktiv zu werden!
- Wenn Sie sich selbst auf den Weg machen, werden Sie in mancher Hinsicht
überrascht und erstaunt sein. Es gibt Hilfe! Es gibt fachlich qualifizierte
und menschlich hervorragende Kolleg/en/innen, die Ihnen kompetent und
einfühlsam sowohl in der Zeit Ihres Entzuges als auch während der weiteren
Entwöhnungstherapie zur Seite stehen. Ihre grundsätzliche Bereitschaft
vorausgesetzt, werden Sie als 'ärztlicher Patient' eine ganze Reihe
neuer Erfahrungen machen, die Ihnen künftig zur Verfügung stehen und
Sie, sowohl menschlich als auch fachlich, bereichern werden. Sie werden
Ihre Schwierigkeiten erleben, sich überhaupt in die Patientenrolle hineinzufinden,
Sie werden aber auch Kollegialität fernab von Leistungsdruck und Konkurrenzdenken
erleben und Sie werden Ihnen bislang unbekannte, gegenseitige Wertschätzung
erfahren. Je mehr Sie Ihre Suchterkrankung als Chance sehen können,
desto mehr wird die Zeit und die Anstrengung, sie zu überwinden zu einer
Phase Ihres persönlichen Wachstums werden. Auch wenn es derzeit vielleicht
Ihr Vorstellungsvermögen übersteigt, werden Sie möglicherweise eines
Tages rückblickend sehr dankbar für die notvolle Zeit sein, in der Sie
menschlich reifen und Erfahrungen sammeln konnten, die Sie durch keine
noch so gute Fort- oder Weiterbildung erlangen können.
- Lassen Sie sich ermutigen, versuchen Sie zu vertrauen und wagen Sie
den Schritt, der Sie in Freiheit führt und zu einer Unabhängigkeit,
die noch weit über die Suchtmittelfreiheit hinausgeht.
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